Als eine chinesische Studentin, die Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und deren Muttersprache keine overte morphologische Markierung für Genus, Numerus und Kasus aufweist, finde ich es manchmal etwas schwierig, die Kongruenz zwischen Subjekt und finitem Verb beim Produzieren deutscher Sätze richtig zu bauen. Fehler wie in Beispiel (1) unterlaufen mir und anderen Sprachlerner*innen immer wieder.
(1) *Ich habe gehört, dass der Professor die Studenten sehr hart kritisiert haben.
Daher war ich überrascht, als ich vom Numerus-Attraktions-Effekt erfuhr und in einer Studie von Lago & Felser (2018) las, dass russische Deutschsprecher*innen nicht anfälliger für Agreement-Attraktionen waren als Deutsch-Muttersprachler*innen.
Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich deswegen ein Experiment geplant, das den Numerus-Attraktions-Effekt bei Deutschlerner*innen mit der Muttersprache Chinesisch und deutschen Muttersprachler*innen vergleicht. Es handelt sich um ein Experiment im Rahmen des delayed repetition-Paradigmas, bei dem Proband*innen einen visuell dargebotenen Stimulus nach Bearbeitung einer kurzen Distraktoraufgabe gesprochen wiederholen müssen.
Die Distraktoraufgabe hat zwei Zwecke: Sie soll verhindern, dass die Versuchsperson das Satzmaterial einfach als phonologische Schleife speichert, und sie soll eine tiefe Verarbeitung des Stimulus fördern. Um das Experiment jedoch nicht zu lang werden zu lassen, haben mein Betreuer und ich uns entschlossen, die Distraktoraufgabe nicht nach jeder, sondern nur nach einigen der Stimuli einzufügen. Daher haben wir zwei Arten von Stimuli: die ohne und die mit Distraktoraufgabe. Beide Stimulustypen werden den Teilnehmenden in zufälliger Reihenfolge präsentiert. Die zufällige Reihenfolge der Präsentation soll es ermöglichen, dass die Distraktoraufgabe ihren eigentlichen Zweck erfüllt (nämlich die tiefe Verarbeitung der Sätze zu unterstützen). Wie Abbildung 1 zeigt, hat die Versuchsperson in den Durchgängen ohne Zusatzfrage zunächst 10 Sekunden Zeit, um das Satzmaterial zu lesen. Wenn die Versuchsperson vor dem Ablauf der 10 Sekunden schon mit dem Lesen fertig ist, kann sie auch auf einen Knopf klicken, um fortzufahren. Sonst wird sie nach dem Ablauf der Lesezeit automatisch weitergeleitet. Danach wird die Aufforderung zur Wiederholung des Satzes auf dem Bildschirm gezeigt. Die Audioaufnahme startet dabei automatisch und die Versuchsperson hat 20 Sekunden Zeit, um den Satz zu wiederholen.
Die Durchgänge mit Zusatzaufgabe (Abb. 2) unterscheiden sich von den Durchgängen ohne Distraktoraufgabe nur dadurch, dass nach dem Satzmaterial eine Frage zum Inhalt oder zur Grammatik des Satzes erscheint. Die Proband*innen müssen die Frage beantworten, um fortfahren zu können.
Wegen der Corona-Pandemie haben wir beschlossen, das Experiment webbasiert durchzuführen. Wir haben kurz überlegt, ob wir das Experiment im Labor mit Hygienekonzept durchführen können, aber als wir feststellten, dass die Maskenpflicht im Labor einen negativen Einfluss auf die Qualität der Audioaufnahme haben würde, war das webbasierte Experiment für uns eindeutig die bessere Option. Außerdem bot die Online-Durchführung des Experiments den Teilnehmenden mehr Flexibilität, da sie das Experiment zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl durchführen können. Auch für die Experimentator*innen kann ein webbasiertes Experiment effizienter sein und den Kommunikationsaufwand verringern. Darüber hinaus hat eine Studie von Kandel, Wyatt und Phillips (2022) gezeigt, dass webbasierte Produktionsexperimente zu ähnlichen Ergebnissen führen können wie Experimente im Labor, was uns in unserer Entscheidung bestärkt hat.
Unser Verfahren zur Rekrutierung der Versuchspersonen ähnelte dem eines Laborexperiments: Anzeigen wurden über die Versuchspersonendatenbank der germanistischen Linguistik-Abteilung der Universität Göttingen verschickt und an mehreren Stellen auf dem Campus ausgehängt, und es wurden Ankündigungen in Seminaren gemacht. Um gezielt chinesische Deutschlerner zu erreichen, wurden Anzeigen in mehreren Chatgruppen des Vereins der chinesischen Studenten und Wissenschaftler in Deutschland gepostet. Interessierte sollten sich dann per E-Mail bei mir melden und ich habe ihnen dann den Link zum Experiment geschickt. Auf diese Weise haben wir zwar nicht den Vorteil des Onlineexperiments genutzt, eine breitere, heterogenere Population zu erreichen, aber wir konnten chinesische Teilnehmende mit ausreichenden Deutschkenntnissen leichter finden.
Als Experimentplattform haben wir uns für Pavlovia in Kombination mit LimeSurvey entschieden. Wir haben Pavlovia verwendet, um den Hauptteil des Experiments mit der delayed repetition task zu hosten. Da es aber bei langen Texten und Fragen mit Textantworten nicht ideal ist, haben wir LimeSurvey für die Datenschutzerklärung und die Einwilligungserklärung vor dem Hauptteil des Experiments sowie den Fragebogen am Ende des Experiments benutzt. Eine weitere Experiment-Plattform, PC Ibex, die in der Studie von Kendal et al. (2022) verwendet wurde, kann sowohl für Sprachproduktionsaufgaben mit Audioaufnahme als auch für Fragebögen eingesetzt werden, aber leider konnten wir die Plattform aufgrund einiger technischer Probleme nicht verwenden.
Jedoch kann die Online-Durchführung eines Experiments mit Aufgaben, die Audioaufzeichnung erfordern, auch einige Nachteile mit sich bringen, da die Umgebung, die Hard- und Software der Teilnehmenden variieren können und die Betreuung durch den Versuchsleiter*innen fehlt. Wir haben mehrere Maßnahmen ergriffen, um die potenziellen Probleme zu vermeiden: In der E-Mail an die Teilnehmenden haben wir die Anforderungen an die im Experiment zu verwendende Soft- und Hardware angegeben. Wir haben die Teilnehmenden auch gebeten, sicherzustellen, dass sie sich in einem ruhigen Raum befinden, wenn sie das Experiment machen. Um ihnen zu helfen, die experimentelle Aufgabe besser zu verstehen, haben wir eine detaillierte Schritt-für-Schritt Instruktion und eine Übungsrunde mit Feedback bereitgestellt.
Um die Versuchspersonen zu motivieren, das Experiment bis zum Ende zu machen, haben wir uns entschieden, ihnen eine Vergütung von 5 Euro anzubieten, die durch den Seed Grant des Vereins Junge Sprachwissenschaft e.V. zur Verfügung gestellt wird. Wir haben ein Formular am Ende des Experiments angebracht, um die notwendigen Informationen für die Auszahlung der Vergütung zu sammeln, und haben zu Beginn des Experiments darauf hingewiesen, dass man die Vergütung nur bei erfolgreichem Abschließen des Experiments erhalten kann, da die notwendigen Daten erst am Ende gesammelt werden.
Den erhobenen Daten nach zu urteilen haben diese Maßnahmen bei den Deutsch-Muttersprachler*innen gut funktioniert. Allerdings könnte die fehlende Möglichkeit, die ohnehin schon komplexe Versuchsaufgabe zu erklären und die Qualität der Durchführung zu kontrollieren, zu Problemen in der Gruppe der chinesischen Deutschlernenden geführt haben; so sind die Audioaufnahmen von sieben der 31 nicht-muttersprachlichen Teilnehmenden für die Analyse nicht verwertbar, weil kein einziger Satz erfolgreich und vollständig aufgenommen wurde. Da wir dieses Problem schon früh in der Experimentierphase entdeckt haben, konnten wir weitere chinesische Versuchspersonen rekrutieren, um die Teilnehmenden, deren Daten unbrauchbar waren, zu ersetzen. Am Ende konnten wir die für die Auswertung des Experiments erforderliche Anzahl von 24 nicht-muttersprachlichen Teilnehmenden erreichen. Ich vermute, dass die Länge und Komplexität der Datenschutzerklärung und der Instruktion (die vollständig auf Deutsch sind) einige chinesische Teilnehmende daran gehindert haben könnten, sie vollständig zu lesen und/oder zu verstehen, obwohl wir von den chinesischen Proband*innen verlangen, dass sie in einem deutschsprachigen Studiengang eingeschrieben sind und damit ein Deutschniveau von mindestens B2 haben. Daher denke ich, dass es bei zukünftigen Online-Experimenten mit Zweitsprachenlerner*innen wichtig wäre, sicherzustellen, dass die Anweisungen so vermittelt werden, dass die Versuchspersonen sie verstehen können. Man könnte vielleicht eine Instruktion in der Muttersprache der Versuchspersonen hinzufügen oder die Kommunikationsmöglichkeit mit den Versuchsleiter*innen verbessern – oder, je nach Zweck der Studie, Versuchspersonen gezielter rekrutieren.
Referenzen
Kandel, Margaret, Cassidy Rae Wyatt & Colin Phillips (2022): Agreement attraction error and timing profiles in continuous speech. Glossa Psycholinguistics 1(1) doi:10.5070/G601157.
Lago, Sol & Claudia Felser (2018): Agreement attraction in native and nonnative speakers of German. Applied Psycholinguistics 39(3). 619–647. doi:10.1017/S0142716417000601.