Dieser Blogpost ist eine gekürzte Version meines Artikels „Are ‚Nominative Experiencers‘ really a feature of Standard Average European?: Haspelmath’s claim revised“ (Zielenbach 2019). Ihr könnt ihn Euch kostenlos herunterladen.


2001 veröffentlichte der deutsche Linguist Martin Haspelmath den Artikel „The European Linguistic Area: Standard Average European“, in dem er zwölf linguistische Merkmale des von ihm angenommenen Sprachbund „Standard Average European“ (SAE) vorstellt. Unter einem Sprachbund versteht man eine Gruppe von Sprachen, die sich in bestimmten Merkmalen („Features“) ähneln, welche sich nicht durch genetische Verwandtschaft erklären lassen und die sie von benachbarten und den restlichen Sprachen der Welt unterscheiden. Zum SAE-Sprachbund zählen die meisten Sprachen Europas (für eine Übersicht s. Abb. 1; vgl. Haspelmath 2001: 1492).

Sprachbund

Abb. 1: Eine Übersicht über den SAE-Sprachbund in Haspelmath (2001: 1505), für die Abkürzungen s. Haspelmath (2001: 1507)

Eins der vorgeschlagenen Merkmale des SAE-Sprachbunds nennt Haspelmath „Nominative Experiencer“ (vgl. Haspelmath 2001: 1495).
Experiencer (vgl. Bsp. 1-3) sind Entitäten (hier vor allem Lebewesen), die Emotionen oder Sinneseindrücke wahrnehmen (vgl. Blake 1994: 69).

  (1) Die Frau sieht den Hund.

  (2) Das Kind erinnert sich an die Hausaufgaben.

  (3) Der Mann hat Kopfschmerzen.

Die Besonderheit an Experiencern, die sie von Agens1 unterscheidet, ist, dass Experiencer nicht unbedingt Kontrolle über ihre Handlungen haben. Wer hat schon willentlich Kopfschmerzen? Wenn wir davon ausgehen, dass das Subjekt eines Satzes auch die*der Handelnde sein sollte, wäre es dann nicht logisch, wenn Experiencer, die eben nicht handeln (sondern wahrnehmen) nicht als Subjekte (wie in Bsp. 1-3), sondern beispielsweise als Objekte kodiert würden?

Dieser Gedanke wird von Haspelmath aufgegriffen:

„There are two ways of expressing experiencer arguments of verbs of sensation, emotion, cognition and perception. The experiencer may be assimilated to agents and coded as a nominative subject (e. g. I like it), or it may be assimilated to a patient or goal, so that the stimulus argument is coded as the nominative subject (e. g. It pleases me).” (Haspelmath 2001: 1495; Hervorhebungen von mir)

Die entscheidende These in Haspelmaths Artikel ist nun, dass Sprachen des SAE-Sprachbunds Experiencer meist wie Agens, und damit als Subjekte, behandelten und sie dementsprechend mit Nominativkasus markierten, während nicht-SAE-Sprachen Experiencer eher wie Patiens2 behandelten und sie mit einem obliquen Kasus markieren würden (vgl. Haspelmath 2001: 1495-1496).

Haspelmath stützt sich dabei auf Bossong (1998), der zehn Experiencer-Prädikate3 in 50 europäischen und angrenzenden nicht-europäischen Sprachen dahingehend untersuchte, ob sie wie die Subjekte von Aktionsverben markiert werden oder nicht. Ersteres nennt Bossong généralisation und letzteres inversion. Bossong beobachtet, dass die europäischen Sprachen eher dazu tendierten, Experiencer zu „generalisieren“, also als Subjekte zu behandeln. Abb. 2 zeigt das Ergebnis von Bossongs Studie (je niedriger der Wert, desto häufiger werden Experiencer „generalisiert“).

Bossong

Abb. 2: Das Ergebnis von Bossongs Studie (Haspelmath 2001: 1596)

Liest man Bossongs Studie wie Haspelmath, dann scheint sie seine These zu belegen, dass europäische Sprachen Experiencer eher wie Agens behandeln und mit Nominativ markieren würden als nicht-europäische Sprachen. Hier gibt es allerdings zwei Probleme: Zum einen beschäftigt sich Bossong gar nicht mit Kasus. Wenn in seiner Studie eine Sprache keine Kasusmarkierungen hat (wie es bei den meisten europäischen Sprachen der Fall ist), dann kann sie trotzdem Experiencer „generalisieren“. Bossong hat also nicht direkt das untersucht, was Haspelmath auf ihn verweisend behauptet. Zweitens gibt es keine systematische typologische Studie dazu, wie nicht-europäische Sprachen Experiencer markieren. Es könnte daher Zufall sein, dass die an den SAE-Sprachbund grenzenden Sprachen nicht „generalisieren“.

Meine Studie

Das zweite Problem wollte ich durch eine typologische4 Studie beheben. Für meine Studie nahm ich das „100-language sample“ des World Atlas of Language Structures (WALS) als Grundlage. Dabei wurden nur Sprachen berücksichtigt, die

  1. nicht zum SAE-Sprachbund gehören und
  2. ein Nominativ/Akkusativ-Kasussystem haben oder mindestens grammatische/semantische Relationen (Subjekt vs. Objekt o. ä.) an Nomen oder Pronomen markieren.

Weiter mussten die untersuchten Sprachen in einer Grammatik oder einem Wörterbuch für mich zugänglich sein. Für die Methodik orientierte ich mich an Bossongs Studie und untersuchte seine zehn verwendeten Prädikate. Leider war es gar nicht so einfach, Beispiele für die Prädikate zu finden. Welchen Kasus ein Prädikat triggert ist in den meisten Wörterbüchern nicht vermerkt. Ich musste daher Grammatiken teilweise händisch durchgehen. Es wurden nur Sprachen berücksichtigt, für die mindestens sechs Belege der Prädikate vorlagen. Darum blieben zuletzt von den 100 Sprachen nur noch 22 übrig, die aber sehr gleichmäßig die Sprachfamilien und Regionen der Welt abdecken: Hocharabisch, (Mittelatlas-)Berber, Finnisch, Maung, Hausa, Hebräisch, Hindi, Kannada, Kayardild, Khalkha, Koreanisch, Krongo, Mangarrayi, Maricopa, Martuthunira, Meithei, (Harar-)Oromo, Persisch, (Yauyos-)Quechua, Türkisch, Yaqui und Yoruba (vgl. Abb. 3). Von diesen 22 Sprachen zeigte nur eine, nämlich Hindi, eine überwiegende Markierung von Experiencern mit obliquem Kasus. Hingegen zeigten 19 Sprachen überwiegend „Nominative Experiencer“. Zwei Sprachen waren ausgeglichen (Finnisch und Yoruba).

Karte

Abb. 3: Ergebnis der typologischen Studie

Fazit

Haspelmaths „Nominative Experiencer“ scheinen kein Merkmal des SAE-Sprachbunds zu sein. Dieses Merkmal lässt sich zwar nicht durch genetische Verwandtschaft der Sprachen erklären (Hindi ist als Indoeuropäische Sprache mit vielen SAE-Sprachen verwandt, markiert Experiencer aber mit einem obliquen Kasus). Wie meine Studie belegt, findet sich das Merkmal in vielen Sprachen weltweit (vgl. Abb. 3). Aus meiner Untersuchung schließe ich, dass „Nominative Experiencer“ wohl weltweit der Normalfall sind und nur wenige Sprachen (wie Hindi) Experiencer oblique markieren. Am 13. November 2019 hat Martin Haspelmath übrigens auf seinen Social-Media-Kanälen gepostet, dass er mir zustimmt.

Referenzen

Blake, Barry J. 1994. Case. (Cambridge Textbooks in linguistics). Cambridge: Cambridge Univ. Press.

Bossong, Georg. 1998. “Le marquage de l’expérientdans les langues d’Europe.” In Jack Feuillet (ed.), Actanceet Valence dans les Langues de l’Europe. (Empirical Approaches to language typology, 20: EURO-TYP, 2). 259-294.

Haspelmath, Martin. 2001. The European Linguistic Area: Standard Average European. In Martin Haspelmath (ed.), Volume 2. (Language typology and language universals, 2). 1492-1510.

Zielenbach, Maria. 2019. Are “Nominative Experiencers” really a feature of Standard Average European?: Haspelmath’s claim revised.


  1. Entitäten, die eine Handlung ausführen (vgl. Blake: 69) 

  2. Entitäten, die von einer Handlung betroffen sind (vgl. Blake: 68) 

  3. kalt sein, hungrig sein, durstig sein, Kopfschmerzen haben, sich freuen, leidtun, gefallen, sich erinnern, vergessen, sehen (Bossong 1998: 261) 

  4. Unter linguistischer Typologie versteht man die Systematisierung von Sprachen nach bestimmten Merkmalen (hier die Kasusmarkierung von Experiencern).